Wo blickt der Engel hin? In Richtung Wiedersehen vielleicht?
Wo blickt der Engel hin? In Richtung Wiedersehen vielleicht? – © Paul Frühauf
 

Wo lässt es sich in Wien am besten für ewig schlummern? Am Zentralfriedhof sind ja ohnehin alle, also haben wir uns ein beschaulicheres Plätzchen angesehen: Den Biedermeier-Friedhof St. Marx.

 
‘Ruhig’ ist nicht das erste Wort, das dem gelernten Wiener durch den Kopf schießt, wenn er die Lage des 350 Jahre alten Friedhofes St. Marx (das übrigens eine alte Form von Markus ist und nichts mit verblichenen Kommunisten zu tun hat) sieht: Eingezwängt zwischen der A23, der Leberstraße und dem Landstraßer Gürtel im 3. Bezirk dürfte der vor allem an Verkehrslärm denn an ewige Ruhe denken. Weit gefehlt. Durchschreitet man das Backsteintor zum Friedhof, ist man plötzlich in einer anderen, ganz leisen Welt angekommen. 

Friedhof St. Marx: † 1874

Eingegraben wird dort heute niemand mehr; die neuesten Grabsteine sind aus dem Jahr 1874. Rund 100 Jahre lang war der Friedhof jedoch schon in Betrieb, bevor er geschlossen wurde. Dass er noch ein langes Leben vor sich gehabt hätte, davon zeugt eine relativ große, gräberfreie Fläche. Die 60.00 Quadratmeter werden bei weitem nicht ausgenutzt. 

 

Reicher Grund für Gräberfreunde

Das wahrlich interessante sind aber weder das (modernistische) erste Mozartgrab noch die alleeartige Anlage des Hauptganges. Die wahren Stars sind die vielfältigen und buchstäblich steinalten Grabsteine, die nicht nur von Reichtum  erzählen, sondern auch wahre Tragödien offenbaren. Ein einfaches “Wiedersehen” auf einem Kindergrab. Ein Engel, die Hände flehend in Richtung Himmel erhoben. Verwachsene Grabstellen, deren Steine in Trümmern liegen, die Namen jener unter der Erde für immer verloren – die wahren Schätze in St. Marx offenbaren sich abseits der gepflegten Kieswege, dort, wo die Vegetation ein wenig dichter wird. Doch Vorsicht beim Erforschen; der Grund ist uneben. Ein Betreten der oft massiv aussehenden Grabplatten, vielleicht, um ein Relief genauer zu betrachten, bietet sich ebenfalls nicht an – aufgrund des Alters können Unfälle nicht ausgeschlossen werden.

 Auf vielen Grabsteinen findet man Inschriften, die die Titelverliebtheit der Wiener widerspiegeln. Man ließ damals in Stein meißeln, was auch nur einigermaßen als solcher verwendet werden konnte. Oft waren es bloß einfache Berufsbezeichnungen, die von den Menschen aber ebenso stolz getragen wurden wie etwa ein Adelstitel oder akademischer Grad. So findet man auf dem St. Marxer Friedhof Grabinschriften wie etwabürgl. Lust und Ziergärtner, herrschaftlicher Wirthschaftsrath und Mitglied der n. oest. Landwirthschafts-Gesellschaft, geprüfte Lehrerin, bgl. Fischhändlerswittwe, k. k. Hof Mundwäscherin, fürstl. Esterhazy’sche Oberbuchhalters Witwe, bürgl. Kanalräumer und k. k. Post-Cassenverwalter. Auf etlichen Grabsteinen steht auch der Zusatz Hausbesitzer oder Hausinhaber, was darauf zurückzuführen ist, dass in den damals stetig wachsenden Vorstädten es sich etliche Bürger leisten konnten, eines der neu erbauten Häuser zu erwerben, um fortan von den Mieteinnahmen gut leben zu können. 

Ein Naherholungsgebiet auf morschen Knochen

Vielleicht ist es eine morbide kleine Wiener Spezialität, vielleicht regt es aber auch zum Nachdenken und zur Selbstreflektion an: Der Friedhof St. Marx ist heute eine öffentlich zugängliche Parkanlage. Zwischen den Grabsteinen und zugewucherten Grüften kann flaniert werden; gleich außerhalb der massiven Friedhofsmauer ist ein Kinderspielplatz untergebracht. Wert ist das Kleinod einen Besuch im 3. Bezirk allemal: Mit der Linie 74A von Wien-Landstraße (U3, U4) bis zum Vienna Biocenter fahren und die restlichen 200 Meter als Spaziergang zurücklegen, um in eine vollkommen von der betriebsamen Umgebung abgeschottete, 200 Jahre alte Welt einzutauchen. Und vielleicht ein Blümchen am ersten Grab von Mozart ablegen – auch wenn seine Gebeine inzwischen schon längst am Zentralfriedhof ruhen. Der Friedhof St. Marx wird für immer seine erste Ruhestätte bleiben. 

(Paul Frühauf)

Quelle: vienna.at

Zuletzt aktualisiert am 07.10.2012